Freitag, November 03, 2006

Every artist is a cannibal, every poet is a thief

Ein schönes Zitat um einen neuen Eintrag in meinen Blog zu beginnen. Die Zeile stammt aus dem Song "The fly" von U2 und hat mich schon beim ersten Hören vor Jahren begeistert. Jeder Künstler ist ein Kannibale, jeder Dichter ein Dieb. Harte Worte über die Kunstschaffenden und doch entbehren sie nicht einer profunden Wahrheit. Es ist sehr schwer etwas Originelles und Originales zu schaffen, neue Gedanken zu denken, die vorher noch nicht in dieser Form gedacht wurden. Blicken wir zurück auf die letzten paar Tausend Jahre der Geschichte der Menschheit, so drängt sich einem der Gedanke auf, dass irgendwie Alles schon mindestens einmal da war. Kunst, Philosophie, Religion, Geschichte - alles nichts wirklich Neues.
In unserem Wahn immer etwas Neues, Besseres, Innovativeres zu schaffen, scheinen wir beständig das Rad neu erfinden zu wollen und vergessen allzu leicht, dass wir oft nur ein wenig in der Vergangenheit graben müssen, um die Werke unserer Vorfahren zu entdecken. Statt sie in Ehren zu halten und in unser Leben einzubinden, packen wir die Schöpfungen der Vergangenheit hinter Glas in Museen - was in der Vitrine steht wird zum Kuriosum, das man gefällig bestaunt und nach Verlassen des vollklimatisierten Mausoleums menschlicher Ideen wieder genauso schnell vergisst wie man es oberflächlich betrachtet hat. Die Relikte der Altvorderen haben ihren ursprünglichen Wert längst verloren, nur noch ihr Alter gibt ihnen aus unserer abgeklärten, klinischen Sicht eine Existenzberechtigung. Voll nostalgischer Ergriffenheit entgeht uns, dass diese staubigen Erinnerungsstücke nicht nur zum Anschauen geeignet waren, sondern zu ihrer Zeit grundsätzlich einen eigenen Zweck hatten. Sicher, wer will schon ernsthaft Wachstafel und Griffel verwenden, mühsam Schriftzeichen in die harte Oberfläche kratzen und sie danach wieder sorgfältig mit dem Griffel glätten, wenn er stattdessen einen Computer verwenden kann? Wer sein Geschäft auf einem alten Nachttopf verrichten, wenn Spülung und Kanalisation die unappetitliche Angelegenheit bequem entsorgen? Wer sein Auto gegen Schusters Rappen eintauschen?
Aber sind diese modernen Errungenschaften wirklich in jeder Hinsicht dem Althergebrachten überlegen? Bequem sind sie, schnell und sauber - aber entsprechen sie wirklich dem, was in unserer Natur eigentlich liegt?
Unsere Natur ist es zu leben und das Leben ist nun mal weder bequem, noch schnell und schon gar nicht sauber. Oftmals will ich gar nicht so schnell vorankommen, so sauber alles geregelt bekommen und mir auch gerne ein paar Unannehmlichkeiten bereiten. Wenn ich mir die Hände bis zu den Ellbogen dreckig mache, um im Garten neue Pflanzen zu setzen, gemütlich durch den Wald gehe und die Welt mit allen Sinnen in mich aufnehme oder stundenlang mit Pinsel und Farbe arbeite und mir danach der Rücken weh tut, trete ich geistig einen Schritt zurück und spüre wieder mein Leben. Lasse ich den Computer ausgeschaltet und greife stattdessen zu einem Buch, so sind meine Sinne in ganz anderem Maße gefordert und befriedigt. Ich liebe Bücher, weil sie riechen und weil der Geruch genauso zum Leben gehört wie das Sehen.
Kehren wir nun zum Anfang dieses Eintrags zurück - zur Kunst.
Was ist der Zweck der Kunst? Oft erscheint es mir als würde Kunst zum Objekt degradiert, das nur auf den einzigen Zweck der Schönheit, Seltenheit oder des monetären Wertes reduziert wird. Der Inhalt ist zweitrangig, die Form allein besticht den oberflächlichen Betrachter oder Zuschauer. Für mich liegt aber vor Allem der Zweck und Wert der Kunst darin, einen neuen Blickwinkel auf das Leben zu vermitteln. Der Künstler nimmt seine Beobachtung des Lebens, interpretiert sie und drückt sie über das Medium seiner Kunst aus. Er öffnet dem Betrachter eine Brücke, über die dieser in seine Haut schlüpfen kann und die Welt für einen Augenblick mit den Augen des Künstlers sehen kann. Ein echter Künstler hat einen scharfen Blick für den Kern der Dinge und die Begabung ihn so in seinem gewählten Medium umzusetzen, dass seine Kunst direkt und viszeral auf den Betrachter wirkt. Das Kunstwerk eröffnet sich dem Betrachter nicht erst nach langem Nachdenken und Interpretieren - es dringt durch die Sinne ein, umgeht das Großhirn und schlägt mit Urgewalt in die Magengrube. Bis das Hirn erst bemerkt "Achtung Botschaft!" muss die Aussage der Kunst schon längst angekommen sein, die Gefühle des Betrachters geweckt und seine Sinne geschärft haben.
Diese Gabe der Kunst ist nicht bei vielen Menschen sehr ausgeprägt. Um einen neuen Blickwinkel auf die Welt zu entdecken, muss man sich erst einmal von der vorherrschenden Sicht verabschieden, sich quer stellen und Konventionen brechen. Man braucht den Mut unbequem, langsam und schmutzig zu sein - den Mut sein eigenes Leben zu leben. Hat man dies geschafft, so braucht man nur noch das Talent und die Übung, diese eigene Sichtweise so umzusetzen, dass sie zum Kunstwerk wird und ihre Wirkung auf andere entfalten kann.
Dann wird man sich auch gegen die Kannibalen und Diebe durchsetzen, die die wahre Kunst nur kopieren und keine wirklich neuen Sichtweisen vermitteln. Dann sieht man auch, dass die Kunstwerke wahrer Künstler nur auf den ersten Blick das Altbekannte darzustellen scheinen. Das neue und eigene ihrer Kunst liegt darin, dass sie ihre Sicht auf die jetzige Zeit vermitteln, unseren Blick schärfen für die Welt, in der wir stehen, und nicht die Welt, die bereits vergangen ist. Betrachten wir so die Relikte der Vergangenheit, so können wir gelegentlich erkennen, dass wir ihre wahre Bedeutung nur nicht verstehen, weil sie nicht für uns gemacht wurden, sondern für die Zeitgenossen des Künstlers. Viele Kunstwerke vergangener Jahrhunderte verstehen wir dennoch auf Anhieb, weil sie Gefühle darstellen, die wir auch heute noch genauso kennen wie unsere Vorfahren - Liebe, Hass, Verzweiflung, Freude - die essentiellen Landmarken unserer Natur, unseres Lebens. Man braucht das Rad nicht neu zu erfinden, um diese Gefühle darzustellen, doch ist es immer wieder nötig sie vor dem Hintergrund unserer Zeit zu porträtieren, um uns vor Augen zu führen wer wir sind und woher wir kommen.
Liebe Freunde, werft die Konventionen über Bord, seid schmutzig, langsam und unbequem, lebt euer Leben und sucht nach dem wahren Künstler in euch! Jede Zeit braucht ihre Künstler!